Filmkritik: Everything Everywhere All at Once | Ruben’s Cinematic Universe

Haltet euer Popcorn fest! Dieser Film nimmt euch mit ins turbulente Multiversum.

Inhalt

Die von China in die USA ausgewanderten Eheleute Evelyn und Waymond Wang betreiben einen Waschsalon. Während Evelyns anspruchsvoller Vater zu Besuch ist, will Waymond mit Evelyn über ihre Scheidung sprechen, ihre Tochter möchte den beiden ihre Freundin vorstellen und die Steuerbehörde verlangt eine Überprüfung ihrer Finanzen. Als dann auch noch ein Waymond aus einem anderen Universum auftaucht und Evelyn offenbart, dass sie der Schlüssel zur Rettung des Multiversums sei, bricht endgültig Chaos aus.

Altes Konzept, erfrischende Umsetzung

Stellt euch vor, jede Entscheidung, die jedes einzelne Individuum trifft, eröffnet ein neues Universum! Das daraus resultierende Multiversum, bestehend aus vielen Paralleluniversen, wird bereits seit der Antike in der Philosophie diskutiert. In der Welt der Filme greift in jüngster Vergangenheit das Marvel Cinematic Universe das Konzept aus den Comics auf, zuletzt etwa in DOCTOR STRANGE IN THE MULTIVERSE OF MADNESS. Doch während die unendlichen Möglichkeiten eines Multiversums dort eher angedeutet werden, nutzt der neue Film von Daniel Kwan und Daniel Scheinert EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE diese zu 100% aus. Die beiden Regisseure und Drehbuchautoren, zusammen bekannt als Daniels, haben zuvor bereits den schrägen, aber auch humor- und gefühlvollen Streifen SWISS ARMY MAN mit Daniel Radcliffe als furzende Leiche geschrieben und inszeniert. In ihrer neusten Arbeit werden nun erneut ein ungewöhnliches Konzept mit originellem Humor, visuellem Einfallsreichtum und einer berührenden Geschichte über das Menschsein verbunden.

Chaotische Kreativität

Auf visueller Ebene scheint sich der Film ganz im Sinne der Vorstellung eines grenzenlosen Multiversums keine Grenzen gesetzt zu haben. Regelmäßig wird hier das Bildformat gewechselt, eine Figur in derselben Szene zu jeweils einer Hälfte an verschiedenen Orten gezeigt und körperliche Beziehungen in einer Welt erkundet, in der Menschen im wahrsten Sinne Wurstfinger haben. Und es wird noch außergewöhnlicher! Immer wieder schöpft der Film die vielfältigen audiovisuellen Möglichkeiten des Mediums Films aus und kombiniert diese auf eine überwältigende und amüsante Weise, die so vielleicht noch nie auf der Leinwand zu sehen war. Dabei dienen alle inszenatorischen Einfälle allerdings keinem reinen Selbstzweck. Während sich einige Einstellungen von Kameramann Larkin Seiple durch veränderte Bildformate vor Einträgen der Filmgeschichte verbeugen, zitieren andere Bilder ihre Vorbilder, zu denen etwa THE MATRIX oder 2001: A SPACE ODYSSEY zählen, wiederum direkt. An anderer Stelle überträgt die fast schon überfordernde Bildgestaltung eben genau dieses Gefühl der Überforderung von Hauptfigur Evelyn auf die Zuschauenden. Im Laufe des Films werden aber auch immer wieder ruhigere oder mit Atmosphäre geladene Szenen eingebaut, die trotzdem nicht weniger kreativ sind.

Geordnetes Chaos

Durch die klassische Strukturierung des Drehbuchs in drei Akte wird das inszenatorische Chaos auf erzählerischer Ebene geordnet. Der erste Akt dient vor allem dazu, die Figuren und ihre Ausgangslage zu etablieren. Bereits in den ersten Minuten kann EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE als unterhaltsamer Film überzeugen und das sogar, ohne das Multiversum eingeführt zu haben. Die Probleme und Konflikte der Familie Wang werden zwar äußerst rasant, aber auch mit komödiantischem Talent und einem Gespür für die charakterlichen Eigenschaften der Figuren greifbar gemacht. Vor allem die schnellen, pointierten und mehrdeutigen Dialoge erweisen sich als mitreißend. Auch später wird in Gesprächen zwischen Evelyn und Waymond über eine mögliche Scheidung hervorragend Kritik in Komplimenten versteckt. Am Ende des ersten Akts dient die Einführung des Multiversums als erster Plot Point und Überleitung zum zweiten Akt. An dieser Stelle findet bemerkenswert viel Exposition statt, in der Figuren anderen Figuren und damit auch den Zuschauenden die Regeln des Films erklären. Hier ist es, abgesehen von den konstanten Fragezeichen in den Köpfen der Zuschauenden, wiederum die fesselnde Inszenierung, die diese auf dem Papier eher trockenen Szenen unterhaltsam macht. Der zweite Akt steht anschließend ganz im Zeichen des Multiversums und der Erkundung dieser neuen Welten. Wie danach der Midpoint, der zweite Plot Point und der finale dritte Akt aussehen, sei an dieser Stelle natürlich nicht verraten. 

Konstant überzeugend

Ursprünglich sollte Waymond Wang die Hauptfigur von EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE werden und die Rolle war für Jackie Chan vorgesehen. Bereits die erste große Actionszene, in der Waymond Wang in einem fulminanten Auftritt gegen das Sicherheitspersonal der Steuerbehörde antritt, zeigt die offensichtliche Bewunderung der Regisseure für die Akrobatik und komödiantischen Einlagen der Action in Filmen von und mit Jackie Chan. Da dieser aber zur Zeit der Dreharbeiten nicht verfügbar war, kehrt nach zwei Jahrzehnten Ke Huy Quan, vor allem bekannt aus INDIANA JONES AND THE TEMPLE OF DOOM und THE GOONIES, auf die Leinwand zurück und füllt die Rolle mehr als ordentlich aus. Darüber hinaus kann so Michelle Yeoh als Evelyn Wang und damit als neue Hauptfigur des Films aufspielen. Nach einer langjährigen Karriere als weiblicher Filmstar im Martial-Arts-Kino in Ostasien konnte sie in den letzten Jahren auch in Hollywood Fuß fassen, zuletzt in SHANG-CHI AND THE LEGEND OF THE TEN RINGS. Hier stellt sie erneut eindrucksvoll ihre Fähigkeiten sowohl als Action-Ikone als auch als nuancierte Schauspielerin unter Beweis. Die Fragen nach der Gleichgültigkeit des Universums, nach dem Treffen von Entscheidungen und nach dem Umgang mit anderen Menschen, die der Film aufwirft, werden vor allem an Evelyn Wang festgemacht. Mit der Darstellung ihrer Figur bildet Michelle Yeoh in diesem chaotischen Film eine nahbare und berührende Konstante.

Fazit

Wer beim Titel EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE bereits aufgegeben hat, sollte sich vielleicht in ein anderes filmisches Universum begeben. Auf alle anderen wartet eine turbulente, rasante und kreative Reise, die definitiv im Gedächtnis bleibt. Hier kommen sowohl Fans handgemachter Action als auch Zuschauende mit einer Vorliebe für Drama oder Humor auf ihre Kosten.

(verfügbar als Video-on-Demand bei u. a. Amazon Prime oder Apple TV)

Übersicht

Erscheinungsjahr: 2022
Regie: Daniel Kwan, Daniel Scheinert
Drehbuch: Daniel Kwan, Daniel Scheinert
Cast: u. a. Michelle Yeoh, Ke Huy Quan, Stephanie Hsu

Trailer


Der Film läuft am Dienstag, den 13. Dezember um 20 Uhr im Unikino in HS 1 im Original mit englischen Untertiteln.
Der Einlass beginnt um 19:30 Uhr.

Der Autor dieser Kritik ist Teil des Unikinos.
Weitere Informationen und das Programm für das Wintersemester unter Unikino – AStA Universität Lüneburg.


Neu hier? Vorstellung zu Ruben’s Cinematic Universe

Letzter Beitrag: Filmtipp: Uncut Gems

Foto: ©Ruben Schmidt