Liebste Tochter,
ich komme nicht gerade aus einer ‚Briefe schreiben’-Generation, nur ist letztlich nichts so persönlich, wie ein Brief. Dies ist mein erster Brief an dich. Lange überlegte ich, was ich dir eigentlich schreiben möchte und vor allem wie.
Du bist jetzt schon über ein Jahr Teil meines Lebens, ein Leben, das nicht mehr vergleichbar ist, mit der Zeit davor. Gerade bist du mit der Mama unterwegs, damit ich mich gut auf meine Studienabschlussarbeit konzentrieren kann, was mir allerdings nur mittelprächtig gelingt, stark ist die Ablenkung durch die Kommunalwahl, für die ich auch kandidiere. Eine ganze Menge an Dingen, die da parallel ablaufen, aber etwas fehlt irgendwie doch – du.
Könnte ich ein Gespräch mit meinem zwei Jahre jüngeren Ich führen, auch da wüsste ich nicht wirklich, wie ich mir von meiner Zeit mit dir und meinen Gefühlen zu dir berichten könnte. Intensivere Erlebnisse in dieser großen Anzahl hatte ich bisher wohl noch nicht. Manchmal hast du mich zur Verzweiflung getrieben, wenn du nachts partout nicht schlafen wolltest (das redete ich mir zumindest sehr erfolgreich ein). Letztlich kannst du da ja überhaupt nichts dafür. Für dich kommt jeder Tag der Entdeckung einer neuen Welt gleich. Du entdeckst eine neue körperliche Fähigkeit, dein Körper wächst über Nacht, die Zähne drücken sich durch, du mimst deine ersten Worte, du stehst. Jedweder Vergleich mit der Erwachsenenwelt würde hier hinken. Diese Momente sind rational gar nicht erklärbar. Vielleicht ist es gerade das, was unsere Beziehung so besonders macht.
Multitasking, so habe ich mir sagen lassen, sei eine meiner Fähigkeiten. Selbstverständlich ist nicht alles Zuckerschlecken. Du bist der erste Mensch, der mir hier echte Grenzen aufzeigte. Während ich früher problemlos drei Dinge nebeneinander machen konnte, ziehst du meine ganze Aufmerksamkeit auf dich und alles andere wird plötzlich vollkommen nebensächlich. Genau dazu haben natürlich viele Menschen eine Meinung. Kleinkinder müssen lernen, sich selbst zu beschäftigen, springt man dann immer sofort, gewöhnen sie sich dran und beginnen das aus zu nutzen, wurde mir gesagt. Mein persönlicher Favorit war, als du einen Monat alt warst, da sollte ich dich während der Geburtstagsansprache zum 70. Geburtstag deiner Urgroßmutter nicht schunkeln, weil du dich angeblich auch daran gewöhnen würdest und dann ohne schunkeln nicht mehr schlafen würdest – ich habe dich geschunkelt und du hast beruhigt weitergeschlafen.
Nun ja, du hast es sicherlich nicht einfach mit deinen Eltern und wirst bestimmt kein „normales“ Aufwachsen erleben dürfen, dafür sind wir einfach zu „komisch“. Es fing schon damit an, dass wir uns entschlossen, dich zu bekommen, zu einem Zeitpunkt der vermeintlich ungünstig ist, nämlich kurz vor Ende unseres Studiums – nicht so in unserem Empfinden. Wir haben uns nicht den Lauf der Dinge vom Leistungsgesellschaftsparadigma diktieren lassen, wenn auch die Erkenntnis in mir wächst, dass ich mich dem nicht vollends entziehen kann. Dein Ankommen in meiner Welt hat mir Struktur gegeben, die mir fehlte. Es hat zu einer Menge an Reflexion geführt, etwa zu Fragen der Ernährung, ähnlich wie bei Jonathan Safran Foer, dessen Vaterwerdung ihn sogar zum Buch schreiben motivierte. Es erschließt sich mir eine vollkommen neue Welt, in die ich niemals hätte eintauchen können, wenn du nicht da wärst. All das mag sehr romantisiert wirken, das macht es nicht weniger wahr. Letztlich will ich dir ein guter Vater sein, deiner Mutter ein guter Gefährte und auch für eine „andere Welt“ eintreten und sie möglich machen. Diese Einstellung entspricht so nicht dem „gesellschaftlichen Mainstream“ und birgt daher große Herausforderungen.
Egal, wann du diesen Brief lesen wirst, für heute gilt erst einmal der von ein paar meiner Jugendhelden aufgestellte Satz „Ans Ende denken wir zuletzt“, wir sind am Anfang unserer Reise. In diesem Sinne freue ich mich auf jeden Tag, möge es ein freudiger oder trauriger werden – es ist schön, dass es dich gibt.
Dein Vater