Ob auf Lesbos, in der Sahara, am Balkan oder im Mittelmeer – die europäische Abschottungspolitik hat auch 2020 zahlreiche Opfer zu verzeichnen. Die Elendslager entlang der Außengrenzen steuern auf einen katastrophalen Winter zu. Eine erschreckende Bilanz.
Silvester steht vor der Tür. Zeit, das vergangene Jahr zu reflektieren. 2020 hat mit der Corona-Pandemie bereits jetzt eine historische Bedeutung. Lockdown, geschlossene Grenzen, leere Flughäfen – die europäische Selbstverständlichkeit grenzenloser Mobilität wurde zeitweise massiv eingeschränkt. Kein Vergleich jedoch zu der Situation an Europas Außengrenzen. Auch in diesem Jahr hat die ‚Festung Europa‘ unzähligen Menschen das Leben gekostet, die nicht das Privileg einer europäischen Staatsbürgerschaft genießen. Gewaltsame Abschreckung ist zum Leitsatz europäischer Abschottungspolitik geworden. Die Schauplätze haben sich dabei teilweise verlagert.
Das Mittelmeer bleibt ein Massengrab
Laut der International Organization for Migration (IOM) sind dieses Jahr weit über tausend flüchtende Menschen auf dem Mittelmeer ums Leben gekommen. Die Dunkelziffer übersteigt die dokumentierten Fälle sicherlich bei weitem. Noch immer werden Seenotretter_innen von europäischen Regierungen aktiv an ihrer Arbeit gehindert. Allein in Italien werden seit Wochen die Schiffe von sechs einschlägigen Seenotrettungsorganisationen (darunter Sea-Watch und Sea-Eye) festgehalten. Als Begründung führen die italienischen Behörden bizarre Argumente wie die zu hohe Anzahl an Rettungswesten an. Schiffen, die bereits gerettete Menschen an Bord haben, wird die Einfahrt in europäische Häfen systematisch verwehrt. Im August beispielsweise hat das Handelsschiff „Moonbird“ 27 Menschen in maltesischen Hoheitsgewässern vor dem Ertrinken gerettet. Über fünf Wochen lang durfte es keinen sicheren Hafen ansteuern, wodurch die Menschen auf der „Moonbird“ wissentlich in Lebensgefahr gebracht wurden.
Tatsächlich ist die Anzahl der Verstorbenen auf dem Mittelmeer in den letzten Jahren merklich gesunken. 2016 waren es noch über 5.000. Dabei ist jedoch vielmehr von einer Verlagerung anstatt einer Verminderung der Problematik zu sprechen.
Verlagerte Außengrenzen: Libyen und die Sahara
Die aktuelle Strategie der EU ist, die Menschen gar nicht erst zum Mittelmeer kommen zu lassen. Seit 2016 bezahlt Europa den Wüstenstaat Niger, um Flüchtende nicht nach Libyen und damit ans Mittelmeer weiterreisen zu lassen. Ähnliche Verträge existieren mit dem Nachbarland Mali sowie dem ostafrikanischen Äthiopien. Der sogenannte „Migration Compact“ mit Niger hat vor allem eins zur Folge: Immer mehr Menschen verdursten und verhungern in der Sahara und werden Opfer von Gewaltexzessen, sowohl durch staatliche als auch nicht-staatliche Akteur_innen. In Libyen sind die Zustände vergleichbar katastrophal. Viele Flüchtende werden in Folterlager gesperrt, wo sie schwersten Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. Ein von der EU finanziertes Lager in Tripolis sollte ursprünglich als sichere Anlaufstelle dienen, ist aber mittlerweile maßlos überfüllt und in hygienisch katastrophalem Zustand. Viele Menschen müssen hungern, weil die EU nicht ausreichend Ressourcen zur Verfügung stellt. Der UNHCR versucht vermehrt Menschen aus dem Lager zu vertreiben, was sie angesichts des libyschen Bürgerkrieges noch größeren Gefahren aussetzt. Im Mai diesen Jahres wurden beispielsweise 30 Flüchtende von Menschenhändlern im libyschen Mizda ermordet.
Um die Menschen von der Flucht nach Europa abzuhalten, kooperiert die EU seit einigen Jahren auch mit der von Milizen kontrollierten „Libysche Küstenwache„, welche Flüchtende gewaltsam nach Libyen zurück drängt. Während europäische Seenotrettungs-Boote systematisch an ihrer Arbeit gehindert werden, hat die EU die Milizen im Oktober noch mit neuen Patrouillen-Booten ausgestattet. Nachdem sie von der „Libyschen Küstenwache“ aufgegriffen werden, verschwinden viele der Flüchtenden oder werden zurück in die Folterlager getrieben. Diese ‚Push-Backs‘ sind illegal, gehören mittlerweile jedoch zum Kern der europäischen Abschottungspolitik.
Menschenrechtsverletzungen auf der Balkanroute
Ähnliche Strategien lassen sich in Südosteuropa auf den sogenannten ‚Balkanrouten‚ erkennen. Ein Höhepunkt der Eskalation ereignete sich im Februar an der griechisch-türkischen Grenze. Die Türkei, welche durch den EU-Türkei-Deal dafür bezahlt wird, Flüchtende an der Weiterreise nach Europa zu hindern, öffnete kurzzeitig die Grenzen. Als sich Tausende auf den Weg machten, beschoss die griechische Grenzpolizei Flüchtende mit Tränengas, Pfefferspray und teilweise scharfer Munition. Rechte Bürger_innen unterstützten die Polizei bei den Gewalttaten. Noch immer werden Menschen, beispielsweise in der Ägäis, illegalerweise zurückgedrängt – auch unter Beteiligung der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex und der deutschen Bundespolizei.
Auch beim Grenzübertritt von Bosnien und Herzegowina nach Kroatien kam es in diesem Jahr vermehrt zu völkerrechtswidrigen Push-Backs durch Frontex und die kroatische Grenzpolizei. Flüchtende Menschen werden dabei zusammengeschlagen, gedemütigt, ihrer Wertsachen und ihrer Kleidung beraubt. Mit schwersten Verletzungen müssen die Menschen in überfüllte Lager oder in die Obdachlosigkeit nach Serbien und Bosnien zurückkehren. Viele Menschen müssen monatelang in improvisierten Unterkünften auf ehemaligen Mülldeponien oder in alten Fabrikgebäuden ausharren. Kurz vor Weihnachten ist im bosnischen Camp Lipa obendrein ein Feuer ausgebrochen, nachdem das Lager ohne Strom und Wasser bereits zuvor stark unterversorgt war. Die verbliebenen Menschen sollten nun in einer Kaserne in Sarajevo untergebracht werden, heute jedoch wurde der Evakuierungsversuch auf politischer Ebene blockiert. Hunderte Geflüchtete laufen nun Gefahr bei bis zu -20 Grad im Freien zu überwintern.
Neue Elendslager auf den Inseln
Viele Schlagzeilen hat dieses Jahr das Elendslager Moria auf Lesbos gemacht. Für knapp 3.000 Menschen war das Lager konzipiert, wobei zeitweise etwa 20.000 dort unter menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht waren. Das überfüllte Lager ist im September vollständig abgebrannt, wodurch tausende Menschen obdachlos wurden. Schnell wurde in Kara Tepe ein neues Lager für über 7.000 Menschen errichtet. „Die Situation ist teilweise noch schlimmer als vor dem großen Brand“, heißt es in einem aktuellen Brief aus Moria II an die Europäische Union. Noch immer sind kein fließendes Wasser und kaum sanitäre Anlagen vorhanden, wodurch sich Hautkrankheiten wie Krätze schnell im Lager verbreiten. Das Camp wird regelmäßig überschwemmt, Zelte werden nass und Ratten greifen schlafende Menschen an. Die Angst vor einem weiteren Winter unter diesen Umständen ist sehr groß.
Lesbos ist dabei leider kein Einzelfall. Auch auf anderen Griechischen Inseln, wie auch auf den Kanaren existieren solche Lager – vielerorts sind neue im Aufbau. Weil Das Mittelmeer immer schwerer zu überqueren wird, verlagern sich Fluchtrouten vermehrt auch auf den Atlantik. Laut IOM haben dieses Jahr bereits über 500 Menschen auf dem Weg zu den Kanarischen Inseln ihr Leben verloren. Wurden Geflüchtete auf den Kanaren vorübergehend noch in Hotels untergebracht, wird nun vermehrt auf inhumane Lagerunterbringung gesetzt.
Politische Perspektiven
Im September hat die EU-Kommission ihren neuen Migrationspakt verabschiedet. Das Abkommen soll den Umgang mit geflüchteten Menschen humaner und effizienter gestalten, manifestiert aber vielmehr die bereits existenten Abschottungsmechanismen. Zusätzlich soll auch die Inhaftierung Geflüchteter während der Bearbeitung ihres Asylverfahrens möglich sein. Die Aufnahme von Menschen aus Moria II und anderen Lagern wird jedoch weitestgehend blockiert. Dabei werden die Stimmen für eine Evakuierung immer lauter. In Deutschland haben sich bereits 218 Städte und Kommunen sowie mehrere Bundesländer für die Aufnahme bereit erklärt. Seit Monaten jedoch wehrt sich Innenminister Seehofer gegen eine humane Migrationspolitik. In einem fraktionsübergreifenden Weihnachtsappell wandten sich nun 246 Politiker_innen des Bundestages an die Regierung, um die Aufnahme von Menschen aus Moria II voranzubringen. Forderungen, die anderen Lager am Balkan, auf den Kanaren oder in Nordafrika zu evakuieren, bleiben bisweilen aus.
Auch in Lüneburg gibt es Bestrebungen, sich als „Sicheren Hafen“ zu erklären und damit den Innenminister auf die Aufnahme geflüchteter Menschen aus den Elendslagern zu drängen. Die Seebrücke Lüneburg macht seit Oktober in den Stadtratssitzungen Druck und hat eine Petition gestartet, um den Rat zu einer entsprechenden Entscheidung zu bewegen.