Theater Lüneburg, 6. Juni. Das StudiSchauspiel 2024 hat sich auf Grundlage von Falk Richters Text FEAR mit rechter Politik auseinandergesetzt. Entstanden ist eine Inszenierung, in der sich dämonische Hassrede mit satirischer Milieu-Studie und zärtlicher Ballade in einer turbulenten Szenenfolge abwechseln.
Barfüßig und mit dezenten Rosenkränzchen im Haar, in luftige weiße Hosen und ärmellose Hemden gekleidet, treten die sieben Spielerinnen und Spieler an diesem Abend auf. Wie Gestalten aus einem Sommernachtstraum, wie Feenfiguren. Als Auftakt stimmen sie das Lüneburg-Lied an und verwickeln dann, durch die Reihen huschend, das Publikum in einen Dialog über Heimat. Aber während man noch hofft, nicht gleich selbst das Mikro unter der Nase zu haben und etwas irgendwie Verfängliches über die Heimat zu sagen, quittieren die Perfomer:innen alles mit einem säuselnden „voll gut“, oder wenigstens „auch gut“. Alles irgendwie gut hier, und überhaupt: „voll schön mit euch grade“. Schon kippt die behauptete Wohlfühlatmosphäre das erste Mal in ihre eigene Persiflage. Eine Einladung zu Zärtlichkeit soll dieser Abend werden, proklamiert Performerin Greta. Aber so einfach ist die Zärtlichkeit in unserer Welt dann leider nicht zu haben. So wechselt das ungefähr hundertminütige Stück immer wieder zwischen poetischer Verletzlichkeit und verhärmter Gekränktheit, zwischen dem Ausblick auf eine befremdliche Weltlage und dem Anblick entfremdeter Weltflüchtiger, zwischen gegenseitigem Verständnis und völliger Verständnislosigkeit.
Zum Höhepunkt gelangt wird diese Dynamik, wie passend zum anstehenden Urnengang, dann beim Thema Europa. Nachdem sich freundliche Mitbürger:innen durch einen Schluck bräunlicher Flüssigkeit von einem Moment auf den anderen in fratzenhafte Hassredner verwandelt haben – eine Erklärung für die Prozesse der Verhärtung darf man von dem Stück nicht erwarten; wie ein Zombie „infiziert“ ist hier gleich jeder, der einmal von einem anderen angespuckt wird – tritt auf einmal ein in zwölf goldene Sterne auf blauem Grund gehüllter Taufprediger auf und bringt widerstandslos alle dazu, ihre Hassreden unter einem Bekenntnis zu Europa zu begraben. Dass bei dieser Verbrüder- bzw. Verschwisterung jedoch auch gewaltig was im Argen liegt, bringen die Spielerinnen und Spieler in einem grandiosen musikalischen Act zum Ausdruck: die zarten Klänge der Europa-Hymne (Florian Reichenbach am Klavier) rutschen ab in eine schräg-schaurige Variation bis daraus schließlich eine düstere Frontex-Hymne geworden ist, in der ein Bündnis besungen wird, dem es nur noch um die Erhaltung seines Reichtums geht.
Ein Kerngedanke des Stücks liegt darin, die Ursache für Nationalismus und Abschottungspolitik in einer allgemeinen Angst und Überforderung zu sehen. Wobei dieses Gefühl, mit dem sich wahrscheinlichen die meisten Zeitgenoss:innen identifizieren können, dann auch der Punkt ist, von dem aus man gegenseitiges Verständnis wiederaufbauen könnte. Das klingt fast schon zu hoffnungsfroh. Denn ist ein solches Angstgefühl, auf das wir uns alle einigen könnten, das gleichzeitig aber auch völlig diffus bleibt, nicht auch eine Verschleierung der wirklichen Ursachen? Der richtige Streit darüber, wovor wir wirklich Angst haben sollten, fehlt schließlich in dieser Inszenierung, die viel aus Textflächen und Ansprache macht, aber nur wenige in die Dialoge geht. – Andererseits geht es in diesem Stück auch um das tatsächliche Entsetzen vor der Gruppe der politisch anderen. Um die Angst vor denen, deren rassistische Redeweisen einem nicht nur im Bundestag, sondern auch beim Familienessen die Sprache verschlagen können, wie Johanna Petschick, Greta Weihmann und Freya Adorf in einer beißenden Karikatur der „Normalfamilie“ zur Schau stellen. Es wird klar, dass Angst uns auch auf eine andere Art verbindet: es ist die Angst, selbst so zu werden wie die anderen.
Gespielt wird, während der Text auch von oder aus der digitalen Welt heraus erzählt, ganz analog, zwischen säckeweise Zeitungsmüll und transparenten Stellwänden, auf denen die Informationsflut nachgebildet wird (Bühne: Simone Anton-Bünting). Als im letzten Teil des Stücks der ganze Informationsschwall schließlich weggewischt wird und wir uns in der Welt der sich bewusst (und teuer) ernährenden und im Hinblick auf ihre eigenen Privilegien (bewusst?) informationsselektiven deutschen Großstädter befinden, steht da nur noch: Hausgemachter Kuchen von Mama, nur 4,50 Euro.
Eines der stärksten Bilder des Abends aber ist, als sich einer der Performer (Fynn Utermark), verschreckt von der Welt, in einen durchsichtigen Hängesessel am Bühnenrand zurückzieht. „Du zartes Pflänzchen!“, rufen ihm die anderen hinterher, und bekritzeln seinen gläsernen Uterus mit allerlei wilden Kommentaren, sodass er ganz schnell wieder seine Geborgenheit verliert. Schade, dass dieses Bühnenteil nicht noch mehr bespielt wird.
Alles in allem wirkt die Inszenierung etwas atemlos. Es sind zu viele verschiedene Szenarien (neben den Genannten kommen auch noch die ostdeutschen Braunkohle-Arbeiter, der demente Opa – Julius Groß – und diverse weitere vor), als dass man sich in die einzelnen hineindenken oder wirklich mit den Verbindungen zwischen ihnen beschäftigen könnte. Die schnellen Übergänge werden vom Ensemble aber gut umgesetzt. Alle zusammen zeigen eine starke Kollektivleistung und überzeugen vor allem auch in den Musik-Szenen (Oliver Tennert singt selbstgeschriebene melancholische Balladen). Doch vor allem ist das Stück ein Ausdruck, bzw. eine Wiederholung der alltäglichen Überforderung auf der Bühne. Ein Zulassen dieses Gefühls, wie uns am Ende gesagt wird – „du darfst alles fühlen / und es darf auch zu viel sein“ – ist sicher eine wichtige Aussage. Noch schöner wäre es aber gewesen, wenn man sich beim Zuschauen selbst ein bisschen weniger gedrängt gefühlt hätte.
Weitere Vorstellungen am 11., 15. Und 21.06., jeweils 20 Uhr.
Regie: Jan-Philip Walter Heinzel
mit: Freya Adorf, Julius Groß, Johanna Petschick, Florian Reichenbach, Oliver Tennert, Fynn Utermark, Greta Weihmann
Foto: t&w / Hans-Jürgen Wege