Public Cry Club

Der Public Cry Club

Pünktlich zur Winterdepressionszeit im Januar 2024 beschließt Carlotta, den Public Cry Club zu gründen und dafür einen Account auf Instagram zu erstellen. Sie ist Studierende an der Leuphana und ist wie einige andere auch nah am Wasser gebaut. Anders als einige andere möchte Carlotta allerdings darüber aufklären und sensibilisieren. Es ist okay, zu weinen und das nicht nur, wenn man traurig ist. Egal wer du bist und wie du dich fühlst, lass die Tränen fließen – auch in der Öffentlichkeit, sagt Carlotta auf ihrem Profil.

Sie teilt Videos und Geschichten von verschiedenen Follower*innen, um mehr Aufmerksamkeit auf das Thema Weinen in der Öffentlichkeit zu lenken – und es funktioniert. Nicht nur Freund*innen fingen an, dem Public Cry Club zu folgen, sondern auch andere Personen, die durch ihren viralen Content auf sie aufmerksam geworden sind. Mit königsblauen Stickern sieht die Farbe des Public Cry Club nicht nur besonders trendy aus, sondern symbolisiert gleichzeitig die Farbe unserer Tränen. Weint wann, wo, und wie ihr wollt, und schämt euch nicht dafür.

Aber warum weinen wir eigentlich?

Gründe gibt es einige: Wir weinen, weil wir besonders traurig, glücklich oder wütend sind, oder weil wir uns befreit fühlen. Dabei vergießt ein Mensch im Laufe seines Lebens schätzungsweise etwa fünf Millionen Tränen, was rund 80 Litern Flüssigkeit entspricht. Außerdem gibt es drei Arten von Tränen: Eine davon produziert laut Wissenschaft nur der Mensch, nämlich die Tränen, die durch Emotionen ausgelöst werden. Von einem evolutionären Standpunkt aus betrachtet, wird angenommen, dass das Phänomen des Weinens im Laufe der menschlichen Entwicklung entstanden ist. So soll anderen Mitmenschen in Notlagen signalisiert werden können, dass Hilfe benötigt wird. Das Fazit der Wissenschaft: Warum wir weinen? Sicher sagen kann man das nicht.

Was steckt nun hinter dem Phänomen, Scham zu empfinden, wenn wir in der Öffentlichkeit oder in einem „nicht geschützten Raum“ weinen? Warum können wir Tränen nicht einfach fließen lassen, ohne dabei auf uns selbst wütend zu werden?

Forscher*innen der University of California, Berkeley, führten eine Reihe von Studien durch, die bestätigten: Das Empfinden von Scham, einschließlich des Weinens in der Öffentlichkeit, spielt eine positive Rolle bei der Stärkung von Bindungen zwischen Freund*innen, Kolleg*innen und Partner*innen. Die Ergebnisse, die im Journal of Personality and Social Psychology veröffentlicht wurden, deuten darauf hin, dass Menschen, die zur Verlegenheit neigen, von anderen als echt und vertrauenswürdig wahrgenommen werden, was das zwischenmenschliche Vertrauen stärken würde. Soll heißen: Zeigen wir „Schwäche“, macht uns das nicht schwach, sondern erzeugt bei unserem Gegenüber sogar Empathie und kann unsere zwischenmenschlichen Bindungen stärken.

Eine Studie der amerikanischen Taschentuch-Marke Kleenex besagt: „Yes, it’s official: It’s OK for big boys to cry.“ In einer Umfrage fanden sie heraus, dass 90% der befragten Frauen und 77% der Männer finden, dass Weinen in den vergangenen 20 Jahren immer mehr sozial akzeptiert wird – von Männern. Demnach soll nicht mehr nach Geschlechterrollen und den damit verbundenen Erwartungen beurteilt werden, sondern es ist okay, die Tränen fließen zu lassen. Ob das auch situationsunabhängig ist, bleibt offen.

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Carlotta erzählt auf ihrer Instagram-Seite von eigenen Erfahrungen, die mit Weinen in der Öffentlichkeit zusammenhängen. Zuletzt berichtete sie über eine Situation im Schulbus mit dazu anwesenden Schüler*innen. In der Caption schreibt sie: „Da heulen nicht unterrichtet wird, hab‘ ich spontan das Thema Emotionsregulation übernommen und bin durchaus zufrieden mit der Performance. Ich küsse eure feuchten Augen.“ Mit viel Liebe und Ironie gestaltet sie ihren Account und schafft damit eine Oase der Tränen für Gleichgesinnte.

Kritik bekommt Carlotta aber trotz ihres Engagements. Unter einem Beitrag, in dem sie sich weinend im ICE zeigt, weil sie keinen Sitzplatz bekommt, reagieren einige in der Kommentar genervt. Warum weint sie jetzt, „nur“ weil sie keinen Sitzplatz bekommt? Darauf antwortet Carlotta wie folgt: „Liebe […], man kann nie wissen, was bei einer Person wirklich vor sich geht. Vielleicht habe ich nicht wegen des Platzes geweint, vielleicht auch doch. Es geht in diesem Beitrag und bei diesem Account auch nicht darum zu vergleichen, wer welche Probleme hat und wann es angebracht ist zu weinen und wann nicht. Denn das ist genau der Punkt. Ich will heulen wann, wie und warum ich will und mir nicht von anderen sagen lassen, wann ich ‚darf‘. Es ist absolut klar, dass viele Menschen sehr schlimme Gründe haben, zu weinen und ein fehlender Sitzplatz natürlich nicht mit anderen Problemen verglichen werden kann. Das kann und sollte man meiner Meinung nach aber auch nicht tun. Ich kann über jede Kleinigkeit heulen (und werde das auch weiterhin tun) und trotzdem verstehen und sehen mit welchen Problemen andere Menschen konfrontiert sind.“

Ihr wollt auch Teil des Public Cry Club sein und habt die ein oder andere persönliche Story, die ihr gerne teilen möchtet, um auch andere Personen zu empowern? Dann schreibt doch gern an Carlotta und @publiccryclub.


Literatur:

Bylsma, L. M., et al. (2020). Eine klinische Übersicht über Forschung zum Weinen. Psychotherapie: Theorie, Forschung, Praxis, Ausbildung, September 2020. DOI: 10.1037/pst0000342

Feinberg, M., Willer, R., & Keltner, D. (2012). Verwirrt und treu: Verlegenheit als Signal von Prosozialität. Journal für Persönlichkeit und Sozialpsychologie, 102(1), 81-97. DOI: 10.1037/a0025403

Kate Fox. (2004). Der Kleenex® For Men Crying Game Report: Eine Studie über Männer und Weinen. Vorbereitet für das Sozialforschungszentrum für gesellschaftliche Fragen, September 2004.

Lutz, T. (2001). Weinen: Die natürliche und kulturelle Geschichte der Tränen. Norton, New York.

Peter, M., Vingerhoets, A., & Heck, G. (2001). Persönlichkeit, Geschlecht und Weinen. Europäisches Journal der Persönlichkeit, 15, 19-28. DOI: 10.1002/per.386