„Das Bedingungslose Grundeinkommen ist eine vollkommen normale Alternative“

Das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) wird seit Beginn der Corona-Pandemie wieder stärker debattiert. Der Soziologieprofessor Sascha Liebermann spricht über die Vorteile und Machbarkeit einer Einführung. Er lehrt und forscht an der Alanus Hochschule und gehört zu den Vordenkern des bedingungslosen Grundeinkommens.

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Prof. Dr. Liebermann, ist das politische Klima reif für die Einführung des BGE?

Auf der einen Seite ist das BGE eine vollkommen normale Alternative, über die diskutiert werden kann. Auf der anderen Seite sind die Vorbehalte immer noch stark. Es gibt auch enorm viele Missverständnisse. Beispielsweise hat jeder heute Anspruch auf einen Grundfreibetrag in der Einkommenssteuer. Das heißt, der Teil des Einkommens wird nicht besteuert. Bei manchen Einwänden, sogar von Ökonomen, frage ich mich: Wissen die das nicht? Ein weiterer Einwand ist oft, dass es ungerecht wäre, wenn Milliardäre ein BGE erhielten. Aber ihnen steht ebenso diesen Grundfreibetrag zu. Und dann gibt es natürlich die, die infrage stellen, dass Menschen mit der Freiheit klarkämen. Diese üblichen Einwände. Empirische Evidenz gibt es dafür keine. Dann merkt man: Auf der einen Seite ist es eine selbstverständliche Alternative. Auf der anderen Seite gibt es aber enorme Vorbehalte, die teilweise in Expertise verpackt werden. Und das ist schon ein Hindernis für die Diskussion. Insofern gilt für eine Einführung: Es kann schnell gehen, es kann aber auch lange dauern. Es ist beides realistisch.

Glauben Sie, die Corona-Krise hätte anders verlaufen können, wenn es bereits ein BGE gegeben hätte?

Es hätte nicht so viele Einkommenssorgen gegeben. Außerdem könnten die Diskussionen beispielsweise angesichts der Umbauten in der Automobilindustrie ganz anders geführt werden. Ein großes Problem in der wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Diskussion ist, dass Arbeitsplätze so ein großes Gewicht haben. Erwerbsarbeitsplätze sind aber für die Wertschöpfung gar nicht entscheidend. Man könnte auch durch mehr Maschineneinsatz Wertschöpfung erzielen und dann wäre es absolut unvernünftig, auf die Rationalisierung von Arbeitsplätzen zu verzichten. Mit einem BGE könnte versucht werden, eine höhere Wertschöpfung zu erzielen und Innovationen zu stärken. Die Digitalisierungsdebatte wäre dann keine Angstdebatte wegen des Arbeitsplatzverlustes, sondern zunächst einmal eine Debatte über eine technologische Möglichkeit. Außerdem wird durch das Erwerbsgebot die in der Familie erbrachte Erziehungsleistung zu wenig beachtet. Die Bürger der Zukunft kommen aus den Familien, nicht aus den Unternehmen. Ein BGE signalisiert, dass andere Lebenssphären genauso wichtig sind wie die Erwerbstätigkeit. Wir haben derzeit eine Sozial- und Familienpolitik, die das Elternsein an den Rand der Erwerbstätigkeit drängt. Das Ziel ist, Eltern immer früher in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das Elternsein wird zu einer Betreuungsaufgabe degradiert. Man könnte sagen, das Familienleben wird weg organisiert. Das BGE hat Sprengkraft, weil es die Erwerbstätigkeit vom Sockel holt.

In einem Vortrag an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz stellten Sie den derzeit gelebten Sozialstaat der in Artikel 20 des Grundgesetzes festgehaltenen Souveränität des Volkes gegenüber. Inwiefern werden die derzeitigen Sozialleistungen dem nicht gerecht?

Das, was in Artikel 20 GG formuliert wird, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht, das ist eigentlich nur die rechtliche Kodifizierung dessen, was für Herrschaft in Demokratien immer gilt. Da sind die Staatsbürger die Träger der politischen Ordnung. Diesen Artikel 20 kann man auch als starke Autonomienorm verstehen. Im Zentrum unseres Sozialstaates steht allerdings das Erwerbsgebot. Alle Leistungen, die wir bereitstellen, sind verbunden mit dem Erwerbsgebot. Rentenansprüche müssen Sie erwerben. Arbeitslosengeld I-Ansprüche müssen Sie erwerben. Arbeitslosengeld II-Ansprüche heißt, Sie müssen sich auf Erwerbstätigkeit ausrichten. Es gibt keine Leistung, die davon ausgenommen ist. Wenn man ein BGE einführt, dann wird im Zentrum das Erwerbsgebot aufgelöst und durch ein Autonomiegebot ersetzt. Alle sozialstaatlichen Leistungen dienen dann dem Zweck, die Autonomie der Bürger zu unterstützen. Man hätte dann die Sozialstaatskonstruktion von heute in Übereinstimmung gebracht mit den Grundpfeilern der modernen Demokratie. In der Grundeinkommensdebatte findet man selten die Argumentation, dass dieser Sozialstaat eigentlich den Autonomievorstellungen der Demokratie nicht entspricht. Das ist in meinen Augen aber der realistische Zugang zum BGE. Da kann man bei den modernen Demokratien direkt andocken.

Was wäre ein sinnvolles Finanzierungskonzept für Deutschland?

Letztlich ist klar: Das BGE muss über Gebühren oder Steuern finanziert werden. Diese Gebühren können im Grunde immer über Einkommen eingezogen werden. Man könnte das Erwerbseinkommen besteuern, aber auch alle Einkommensarten – beispielsweise auch Gewinne aus Dividenden. Auch die indirekte Steuer wie die Mehrwertsteuer könnte eingesetzt werden. Vermutlich würde es eine Mischung werden. Ich bin aber kein Finanzfachmann. Das ist nur das, was ich aus der Debatte kenne. Natürlich lässt sich nur das verteilen, was man zum Verteilen hat. Das bestreitet auch niemand. Wenn der Kuchen kleiner werden würde, weil tatsächlich die Wertschöpfung sinkt, dann wird wahrscheinlich auf lange Sicht das BGE auch sinken müssen. Dann ist das so. Der Haken ist immer die Frage nach der Erwerbsbereitschaft. Werden die Leute weiter erwerbsbereit sein oder nicht? Und ich sehe nicht, warum das mit einem BGE nicht der Fall sein sollte. Wahrscheinlich würden Eltern die Möglichkeit ergreifen, sich länger zurückziehen zu können. Das muss aber doch gar kein Schaden sein. Dafür könnten andere in den Arbeitsmarkt strömen. Das kann sich auf lange Sicht auch abwechseln. Es ist mir zu simpel, wenn jemand fragt: Können wir uns das leisten? Können wir uns denn leisten, was wir heute machen? Zeitverschwendung leisten wir uns, Unproduktivität, Wertschöpfung, die aufgrund der Arbeitsbedingungen nicht erbracht wird. Das leisten wir uns alles. Das wird, glaube ich, auch durch die abstrakten Modellrechnungen der empirischen Wissenschaften befeuert. Darin wird immer nur vorgerechnet, was sich im Verhältnis zu heute ändert, wenn alles gleich bleibt. Da geht immer das Arbeitsangebot zurück. Die verbesserten Arbeitsbedingungen, die vielleicht zu Produktivitätszuwachs führen, die die Arbeitsbereitschaft erhöhen, werden überhaupt nicht berücksichtigt.

Als vorteilhaft für eine Einführung wird meist angeführt, dass durch die wegfallende Bedürftigkeitsprüfung Verwaltungskosten gesenkt werden könnten. Aber es gibt auch die Befürchtung, dass Menschen mit höherer Bedürftigkeit keine weiteren Sozialleistungen erhalten. Wie schätzen Sie diese Problematik ein?

Ja, das ist natürlich klarerweise der Fall. Wenn bei einer Einführung des BGEs alle anderen sozialstaatlichen Leistungen gestrichen würden, dann wird ein Folgeproblem erzeugt. Denn mit diesem Geld müsste man dann auskommen können. Es gäbe kein Wohngeld und keine weiteren Leistungen mehr. Wenn man das so einführen würde, würde man die Lage insgesamt verschlechtern. Das ist, glaube ich, auch unbestritten in der Grundeinkommensdebatte. Deswegen muss genau überlegt werden, was das BGE ersetzen kann und was nicht. Dafür müsste man die Leistungen nur durchgehen, die in den Sozialgesetzbüchern definiert sind. Bei der diskutierten Beitragshöhe von 1200 € könnten viele Leistungen ersetzt werden.
Allerdings ist das BGE pro Person gedacht. Die Lage in einem Einpersonenhaushalt wäre also ganz anders als in einem Dreipersonenhaushalt. In einem Einpersonenhaushalt kann es sein, dass die Hilfen für besondere Lebenslagen weiter bestehen müssten, in einem Dreipersonenhaushalt nicht.
Bereits heute wird das Existenzminimum in Form des Grundfreibetrags in der Einkommenssteuer sowie durch Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II bereitgestellt. Also, im Grunde versteht man die Debatte über das BGE nicht angesichts der umfänglichen Leistungen, die wir heute haben.


Dieser Artikel erscheint als Gastartikel und ist im Rahmen eines Journalismus-Seminars entstanden.
Autorin: Frederike Burgdorf

Titelbild: © Alanus Hochschule