Buchvorstellung „Generation Haram“ – Verbote, Kopftücher und Gerechtigkeit

„Haram“ – das ist arabisch und bezeichnet im Islam alles was unantastbar oder verboten ist. Die österreichische Pädagogin Melisa Erkurt benennt so eine ganze Generation an Schüler_innen. Muslimische Jungen an Wiener Schulen versuchen mit dem Begriff muslimischen Mädchen vorzugeben, wie sie sich verhalten und vor allem was sie anziehen sollen, beobachtet die Lehrerin aus dem Schulalltag einer sogenannten „Brennpunktschule“. Ihre Geschichten packt sie in das Buch „Generation Haram“.

Doch diese Beobachtungen sind für Erkurt kein Anlass, die Jugendlichen von heute zu rügen. Viel eher sieht sie den Staat und die Gesellschaft in der Verantwortung. Denn, so Erkurt, ist das Bildungssystem nur auf Kinder mit zahlreichen Ressourcen aus dem Elternhaus ausgerichtet. Kinder, denen diese Ressourcen verwehrt sind, werden zur Generation Haram. Zu einer Generation, in der die muslimischen Jungen, Mädchen vorschreiben, was diese zu tun und zu lassen haben, weil sie ansonsten ohnmächtig sind. Laut Erkurt geht es nicht tatsächlich um Religion, sondern um eine Machtlosigkeit in einer Gesellschaft, die einen schon längst abgeschrieben hat.

Für einen erfolgreichen Bildungsweg braucht es in Österreich, ganz ähnlich zu Deutschland, bestimmte Voraussetzung: die Beherrschung der deutschen Sprache, auch im Umkreis die Eltern und engsten Bezugspersonen. Beides ist jedoch vor allem in sozioökonomisch schwächeren Strukturen, bei Arbeiter_innen, Migrant_innen- und Flüchtlingsfamilien, selten vorhanden. Oftmals sind es die Kinder selbst, die Care Arbeit leisten. Finanzielle Möglichkeiten für Nachhilfe sind kaum vorhanden. Und so scheinen Erkurts Ausführungen aktueller den je zur Zeit einer Pandemie, in der der Zugang zu digitalen Geräten auch in der Bildung, sei es in der Schule oder der Universität, entscheidend ist.

Erkurt zeigt die Herausforderungen auf, die Kindern, aber auch Pädagog_innen vom Kindergarten bis zum Abschluss begegnen. Zwar ist das Buch auf den österreichischen Bildungsweg ausgelegt, doch lassen sich Parallelen zu Deutschland ziehen. Auch in Deutschland werden Kinder schon in einem sehr jungen Alter nach vermuteten Bildungswegen getrennt. Seit der Flüchtlingskrise 2015 gibt es eigene Deutschförder- und Ankunftsklassen, die die soziale Kluft zwischen den Kindern noch weiter spalten.

Oft kommen weitere Diskriminierungserfahrungen in der Schule und auch im späteren Berufsweg hinzu. Erkurt zeigt, was in Deutschland fast 21,2 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund erleben. Es scheinen subtile Erfahrungen zu sein, aber diese häufen sich: die falsche Aussprache des eigenen Namens, Fragen zur tatsächlichen Herkunft, Religion oder Hautfarbe, die schlechtere Benotung als Mitschüler_innen mit deutschen Herkunftsnamen. Lehrpersonen nehmen vielfach Stereotypen als allgemeingültig wahr und projizieren diese auf ihre Schüler_innen. Als Beispiel nennt Erkurt die Debatten, die in Lehrer_innenzimmern losgehen, wenn ein Mädchen, dass am Tag davor ihre Haare noch offen trug, am nächsten mit einem Kopftuch auftaucht. Sie zeigt, dass es nicht immer das junge, muslimische Mädchen ist, welches von ihren Eltern zum Tragen des Kopftuches gezwungen wird. Es gibt viel mehr Beweggründe und Facetten hinter solch einer Entscheidung, welche Lehrpersonen aber sehr selten überhaupt in Betracht ziehen.

Die junge Lehrerin erwähnt auch, wie sehr sich ihre Schüler_innen freuen, wenn sie ihre Namen richtig ausspricht. Melisa Erkurt hat selbst Migrationshintergrund, ist während dem Jugoslawienkrieg aus Bosnien nach Österreich geflohen, hat studiert und arbeitet nun als Lehrerin und Journalistin. Sie selbst hat erfolgreich einen gesellschaftlichen Aufstieg geschafft und kann als Vorbild für Schüler_innen dienen. Doch es ist ihr wichtig, zwei Dinge zu betonen: Zum einen besteht das Risiko, dass durch eine  derartige „Erfolgsbiographien“ die strukturelle Diskriminierung dahinter verkannt werden. Denn Diskriminierungserfahrungen werden trotzdem gemacht und die Ressourcen, die ein Akademikerkind von Beginn an hat, bleiben trotzdem verwehrt oder müssen mühsam aufgebaut werden. Zum anderen dürfen Erfolgsbiographen nicht als Beispiele genutzt werden, um den Status Quo des Bildungssystems zu erhalten.

Denn genau daran appelliert Erkurt: an eine Neuausrichtung der Schulinhalte. Neue Themen müssen aufgenommen werden, welche Jugendliche interessieren: Der Klimawandel, die Flüchtlingskrise, Feminismus, LGBTQ+ und aktuelle politische Geschehnisse wie den Israel-Palästina-Konflikt. Es muss etwas getan werden, um Schule für alle zugänglich und lehrreich zu machen. Natürlich, um allen zu Erfolgsbiographien zu verhelfen. Aber auch um für die Zukunft besser auszubilden. Schon seit Jahren beklagen die Universitäten einen Rückgang an der Qualität der Fähigkeit, die Schulabsolvent_innen mitbringen. Eine Reform könnte auch dieses Problem lösen.


Foto: Melisa Erkurt – GenerationHaram – (c) Ema Jerkovic

Ema Jerkovic

Masterstudentin der Kulturwissenschaften und begeisterte Schreiberin - wissenschaftlich, journalistisch und schriftstellerisch.

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