Bis Istanbul und zurück

Eine Reise mit dem Fahrrad. Nach 14 Semestern konnte ich mir endlich mein Magister Zeugnis aushändigen lassen. Doch die Erleichterung über die überstandenen Prüfungen und der mühsam aus den Tasten gehämmerten Abschlussarbeit war längst einer Angst gewichen: Was mache ich nach dem Studium? Anstatt mich nun gleich zu bewerben oder ein Dissertations-Projekt zu ersinnen, habe ich mich entschlossen, mit meinem Partner per Fahrrad nach Istanbul zu fahren. Diese Entscheidung klingt einfacher als sie war. Zwar wurde ich von allen Seiten ermutigt und zum Teil bewundert, dennoch musste ich immer wieder das Gefühl verdrängen, etwas zu verpassen. Natürlich ist es verlockend, nach dem Abschluss erstmal „auszusteigen“. Das bedeutet aber auf der anderen Seite, beruflichen Möglichkeiten zu entsagen: Was, wenn genau die Stelle, die perfekt zu mir passt, in der Zeit der Reise ausgeschrieben wird?

Nach langen Vorbereitungen, schwierigen Kaufentscheidungen und nervenzehrender Organisation schwingen wir uns Ende April 2008 auf die Räder. Am ersten Tag kommen auch gleich unsere neuen Regenklamotten zum Einsatz. Die erste Nacht im Freien verbringen wir nass und klamm in einem Hain hinter Lauenburg. Am nächsten Morgen weckt uns die Sonne und wird uns die folgenden Monate nur noch selten verlassen. Der Elbe folgend erreichen wir Tschechien. Vor Prag verlassen wir den Heimat-Fluss und radeln durchs böhmisch-mährische Hügelland über die Grenze nach Wien. Österreich folgt Ungarn und dann Rumänien, das uns sehr begeistert.
In den kleinen Ortschaften Rumäniens verursachen die vollbepackten Velos großes Staunen und schnell versammelt sich eine Schar Kinder um uns. Mindestens ebenso großes Staunen verursachen bei uns die vielen Pferdekutschen, die hier zum normalen Straßenverkehr gehören. So kommt es vor, dass die Kutscher und wir uns gegenseitig mit offenem Mund Hinterherschauen. Die Menschen sind von Region zu Region sehr verschieden. Die Reaktionen reichen von abschätzigen Blicken und entsetztem Erstaunen über verschüchterte Neugierde bis hin zu herzlicher Offenheit. Was uns besonders gefällt ist ein ironischer Humor, den wir bei vielen Rumänen antreffen und der über die Sprachgrenzen hinweg funktioniert. Die kleinen Nebenstrassen zu den Orten, die in unserer Karte verzeichnet sind, existierten leider nicht immer. Gleich am ersten Tag finden wir uns mit von Schlamm verklebten Reifen in einer Wiese wieder. Ein besonderes Ereignis ist die Überquerung des Flusses Somes. Die auf der Karte eingezeichnete Brücke gibt es leider nicht, dafür einen Ort weiter ein Floss, zunächst noch ohne Fährmann auf der anderen Uferseite. Auf einem Holzschild ist jedoch eine Nummer angebracht. Die versuchen wir mit Hilfe eines Kutschers und einer Frau zu entschlüsseln und anschließend zu erreichen, leider kann keine Verbindung hergestellt werden. Gefrustet machen wir uns auf den Weg zu der etwa 20km entfernten Stadt Satu Mare, um dort per Brücke über den Fluss zu setzen. Doch vorher lässt uns ein plötzlicher Schauer Zuflucht in einem Magazin suchen. Dort treffen wir einen deutsch sprechenden Rumänen, der mit seinem Handy den Fährmann erreicht. Also werden die Bikes auf seinen Pick Up gehievt, es geht die vorher geradelte Strecke zur Fähre zurück und etwa 15 Minuten später erscheint auch tatsächlich am jenseitigen Ufer ein alter, von Sonne, Wind und Leben gegerbter Mann. Er befördert uns mit seinen enormen Kräften über den Fluss. Nach mehrmaliger Überquerung der Kaparten und drei öden
Tagen durch die Walachei erreichen wir Bulgarien. Wir radeln zielstrebig zum Schwarzen Meer und erreichen nach etwa 3 Monaten die türkische Grenze und kurz danach auch das vorläufige Ziel unserer Fahrt: Istanbul. Hier gönnen wir uns eine Woche Pause. Wir finden ein sehr billiges, heruntergekommenes, dafür mitten in der Altstadt gelegenes Hotel. In derselben Strasse liegt ein kleiner Çay-Laden, mit dessen Besitzer wir uns schnell anfreunden. Wir verbringen hier viel Zeit, denn noch attraktiver als die vielen historischen Bauten erscheint uns die wieder zugängliche deutsche Zeitung, die wir genüsslich im Schatten bei heißem Çay lesen und uns möglichst wenig dabei bewegen.
Nach einer Woche Istanbul begeben wir uns per Fähre auf die Süd- und damit auch asiatische Seite des Marmara Meeres und wollen nach der Woche Fahrradpause auch ganz beherzt wieder die Reise gen Süden aufnehmen. Es fängt schon an zu dämmern und die Strasse beginnt in einem weiten Bogen ins Inland zu ziehen, da blitzt noch mal das Marmara Meer auf, in dem wir bislang noch nicht gebadet haben. Ein Grund, um einen kleinen Weg einzuschlagen, der uns an die Küste zurück bringen soll, um dort ein Plätzchen zum Schlafen zu suchen. Wir fahren dann Ali in die Arme, der uns zu Vera schickt „eine echt deutsche Frau!“, irgendwo unten in der Bucht sei sie zu finden, da sollten wir hin. Wir holpern also zur Bucht und da sitzt auch eine alte Frau unter einem Feigenbaum in der Abendsonne. Auf die Frage „Bist Du Vera?“ antwortet sie nur „Ihr habt bestimmt Hunger, geht schnell Baden, dann könnt ihr essen kommen.“ Abends nach dem Essen guckt sie uns an und sagt „Ihr seht so aus, als ob ihr länger bleiben wollt, von mir aus könnt ihr ne Woche bleiben.“ Zuerst verneinen wir noch, nein, nein, morgen würden wir weiter fahren wollen. Am nächsten Morgen ist es aber so schön, das wir doch bleiben und noch einen Tag und noch einen und am Ende bleiben wir doch eine Woche bei Vera am Marmara Meer. Noch bis Pergamon radeln wir weiter gen Süden. Auf der Höhe gelangen wir an die Küste und setzen mit Abstechern in Lesvos und Limnos auf das griechische Festland über. Um der Hitze zu entfliehen stehen wir nun schon immer mit der Sonne auf. Ab 11 Uhr Mittags ist mit Temperaturen über 40 Grad ans Radfahren nicht mehr zu denken. Ab fünf Uhr am Nachmittag steigen wir wieder in die Pedale um einige Stunden später bei südlich früh einbrechender Dunkelheit einen Schlafplatz zu suchen. So richtig unverfrorener Globetrotter bin ich auch nach vier Monaten des Reisens nicht und so ist für mich die Schlafplatzsuche hinter Gebüsch, um vor fremden Blicken geschützt zu sein, auch immer mit der Aufregung vor der Begegnung mit Schlangen und Skorpionen gepaart. Unerfreuliche Begegnungen bleiben uns jedoch erspart.Nach Griechenland gelangen wir ein zweites mal nach Bulgarien. Dort ist auf unserer Landkarte eine weitere Sehenswürdigkeit vermerkt. „Baba Wanga“ steht dort und darunter in Klammern „Hellseherin“. Was das sein soll bleibt uns unklar, auch nachdem wir einige Leute auf dem Weg darauf ansprechen. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als selber vorbeizuschauen. Mit der Abenddämmerung erreichen wir den Ort. Anstatt einer kleinen Stadt, wie von uns erwartet, steht dort nur eine Hütte und dahinter erstreckt sich ein riesiges Areal an wohlgepflegten Wiesen und Beeten und in der Mitte eine Kirche, aber keine alte, wie wir sie bis dato in der Gegend gewohnt waren, sondern ein ganz neues Gebäude, das an der Frontseite mit sehr modern anmutenden Zeichnungen von Menschen verziert ist. Baba Wanga, erfahren wir dort, galt als Hellseherin und wird von vielen Menschen als Heilige verehrt. Die Kirche ist nach ihrem Tod erbaut worden. Baba Wanga hat vorher an diesem Ort die Menschen getroffen und geheilt. Wir dürfen neben ein paar Hütten unser Zelt aufbauen und machen noch eine Entdeckung: Hinter der Kirchenanlage und weiteren Häusern liegen heiße Quellen mit schwefelhaltigem Wasser. Leider ist auch dieser schöne Ort, wie so viele andere, die wir auf der Reise sehen, mit Müll gespickt. Trotzdem setzen wir uns am kommenden Morgen in eins der Naturbecken und genießen in den kühlen Morgenstunden das warme Heilwasser.

Bei unserer Weiterfahrt durch Mazedonien hören wir nun immer wieder über Waldbrände. Unsere Route führt uns durch das südliche Gebirge, an Bergen vorbei, die vollständig verkohlt sind. Es ist die einzige von nur drei Ost-West Verbindungen, die nicht an einer Hauptverkehrsstrasse verläuft. Prilep ist das Herz der mazedonischen Tabakindustrie, die durch die weiten Tabakfelder permanent präsent ist. Hier gibt es sogar ein Zentrum zur Erforschung von Tabak und ein besonders aromatischer Tabak soll hier seine Heimat haben. Uns zieht es aber weniger zum Tabak und auch nicht zu der nicht so einladenden Stadt Prilep, sondern zum Kloster Treskaveç, das oberhalb von Prilep unter einem Gipfel ruht und Kulisse des Films „Before the rain“ war. Dorthinauf führt leider nur eine steile Sandstrasse, so dass Radeln schlichtweg unmöglich ist. Anstatt aber nun die Räder unten anzuschließen, wuchten wir diese den Berg rauf. Oben angekommen zahlt sich die Mühe aus: Das Kloster ist nicht nur wunderschön, wir dürfen sogar dort bleiben und so freuen wir uns, unsere Sachen dabei zu haben. Wir verbringen 1 1/2 wunderschöne Tage dort, essen mit dem äußerst charismatischen Novizen, der das Kloster betreut und kriegen zum Abschied von seiner Haushälterin noch Marmelade, Kaffee, Brot und eingelegte Paprika geschenkt. Sie verrät uns, Touristen könne sie nicht ausstehen, aber wir dürften jederzeit wiederkommen. Hinter Mazedonien durchkreuzen wir Albanien, von wo wir nach Italien übersetzen. Ein Netz kleiner und endlich wieder asphaltierter Strassen durchzieht die durch Olivenhaine geprägte Region Apulien.
Einen Höhepunkt in Italien bildet der Besuch von Matera, wo wir auch gleich zwei Nächte verbringen. Matera ist wegen ihrer Sassi bekannt, einem verlassenen Stadtteil im Zentrum, der aus Höhlenwohnungen besteht. Diese, in den weichen Tuffstein geschlagenen Behausungen waren bis in die 70er Jahre noch bewohnt bis ihre Anwohner, wegen der schlechten hygienischen Bedingungen zwangsumgesiedelt wurden. Erst 1993 erklärte die Unesco die Sassi zum Weltkulturerbe und umfassende Instandhaltungsmaßnahmen begannen. Besonders beeindruckend sind die vielen Felskirchen, die in und um Matera von Mönchen im Mittelalter erbaut wurden. Diese und einige Behausungen sind für touristische Zwecke geöffnet und werden gepflegt. In diesen Vierteln lassen sich heute gerne junge Kreative nieder, die in den renovierten Höhlen ihre Agenturen eröffnen. Ein weites Areal, das zwar abgesperrt jedoch leicht zugänglich ist, ist jedoch eine Geisterstadt. In den leerstehenden Grotten finden sich aus Stein gehauene Zisternen, Tische und Bänke, alles von einem grün-schwarzen Film aus feuchtem Moder überzogen. Diese Gassen waren schon bei Pasolini Kulisse für Jesus Geburt und wurden nun von Mel Gibson wieder als Schauplatz benutzt. Von Matera radeln wir direkt zur Küste zurück. Ein erster Regen, der auch in Süditalien den Herbst einläutet, verabschiedet uns und wir besteigen die Fähre, die uns in 30-Stündiger Fahrt bis nach Rijeka an Kroatiens Küste bringt. Es ist Mitte September.
Nach Kroatien führt uns die Strecke durch Slowenien und Österreich mit einem letzten Alpen-Pass bis nach Deutschland zurück. Die letzten Radtage sind feucht und kalt und wir des Radelns ziemlich müde. Insgesamt haben wir gut 7500 km hinter uns gelegt. Pro Tag sind wir meistens zwischen 50-100 km gefahren. Wir hatten insgesamt fünf Platten, einen gebrochenen Fahrradständer, einen lockeren Gepäckträger und diverse schadhafte Lichtleitungen. Wir sind an geschätzt 50 Unesco Weltkultur Erbstätten vorbei geradelt und haben beeindruckende Landschaften durchfahren. Doch das wundervollste an dieser Reise waren die vielen Begegnungen mit den Menschen. Ab Rumänien und in allen folgenden Balkanländern wurden wir immer wieder eingeladen.

Diese Erlebnisse mit den Bewohnern der Länder, durch die wir gereist sind, sind die bleibenden Erinnerungen, die wir von der Fahrt mit zurücknehmen. Mittlerweile sind wir seit fünf Monaten wieder zurück und ich bin nun wieder in der Situation, mich zu entscheiden, was nach dem Studium kommt. Die Stelle, die perfekt zu mir passen würde, suche ich immer noch, aber ich habe eine wunderbare Erfahrung gemacht, die mir keiner wieder nehmen kann.

Wiebke Stadler