Bemerkt

„Jugend betet für Hamburg“ hilft Prostituierten im Hamburger Stadtteil St. Georg. UNIVATIV spricht mit Gründer Olaf Engelmann über das brisante Thema.

UNIVATIV: Wie hat alles angefangen?

Olaf: Vor vier Jahren haben wir zu dritt eine Gruppe gegründet: „Jugend betet für Hamburg“. Die durchschnittlich 20 jugendlichen Teilnehmer kommen aus verschiedenen Kirchengemeinden und setzen sich für die Stadt ein, indem sie jede Woche gemeinsam beten. Wir glauben, dass Gott Lösungen kennt, auf die wir gar nicht kommen können. Von Anfang an sind wir auch zu verschiedenen Orten in Hamburg gegangen, um zu sehen, was in unserer Stadt passiert. Wir wollten nicht einfach nur in unserem stillen Kämmerlein sitzen. Anfang 2008, also zweieinhalb Jahre nach der Gründung von „Jugend betet für Hamburg“, sind wir auf St. Georg gestoßen.

UNIVATIV: Was habt ihr dort gesehen?

Olaf: Wir haben gemerkt, wie groß das Areal der Prostitution dort ist, wie es gegliedert ist und wie die Hotels funktionieren. Dass es keine normalen Hotels sind, in denen man seinen Urlaub verbringt, sondern Stundenhotels, wo die Frauen mit ihren Freiern zu Spottpreisen hin gehen können. Jeder von uns war bewegt von dem, was er gesehen hatte. Wir haben uns dann entschieden, regelmäßig nach St. Georg zu gehen. Erst einmal im Monat, mittlerweile alle zwei Wochen. Ende 2008 haben wir begonnen, den Frauen in der kalten Jahreszeit Tee und Kakao anzubieten. Sie waren sehr dankbar dafür, weil sie dort stehen und frieren. So sind wir in Kontakt gekommen und haben erfahren, wie ihre Umstände sind, warum sie dort stehen und woher sie kommen.

UNIVATIV: Was für Frauen arbeiten dort?

Olaf: Wie sich herausgestellt hat, gibt es relativ wenige Frauen, die dort stehen, um eine Drogensucht zu finanzieren. Der größte Teil arbeitet dort, um ihre Familien durchzubringen. Die meisten kommen aus den armen Ostblockländern für drei Monate nach Deutschland – so lange, wie ein Touristenvisum geht. So können sie legal hier sein, aber die Prostitution ist illegal, weil sie kein Gewerbe angemeldet haben. Nach drei Monaten fahren sie mit dem verdienten Geld zurück in ihr Land, geben das Geld ihren Familien und kommen dann wieder für drei Monate nach Deutschland.

UNIVATIV: Wie kommen sie in die Prostitution?

Olaf: Es gibt Männer im Hintergrund, die diese Frauen in die Prostitution hinein führen. Der Schritt in die Prostitution ist sehr, sehr groß. Meistens ist es so, dass die Frauen schon viel Missbrauch in ihrem Leben erfahren haben, aber es gibt auch das Phänomen der Loverboys. Der Begriff kommt aus Holland und bezeichnet junge Männer, die einen Blick für Mädchen mit geringem Selbstwertgefühl haben. Auf sie geht der Loverboy dann gezielt zu und umgarnt sie. Wie jemand, der verliebt ist, lädt er sie zum Essen ein. Und dann lockt er die Mädchen mit einem Job in einem anderen Land, z.B. als Kellnerin. Sie folgen ihm vertrauensvoll über die Grenze und sobald sie in dem Land sind, fällt die Maske, die der Loverboy die ganze Zeit getragen hat: In den meisten Fällen vergewaltigen sie die Frauen, um deren Hemmschwelle vor der Prostitution zu brechen. Die Männer selbst bezeichnen das perverser weise als „Ausbildung“ der Frauen. Die Loverboys fahren dann zurück in ihr Herkunftsland und gehen auf die Suche nach neuen Opfern.

UNIVATIV: Was genau machen die Leute von „Jugend betet für Hamburg“ in St. Georg?

Olaf: Unser Anliegen ist in erster Linie, die Frauen als Menschen und nicht als Objekte zu sehen. Von den Männern werden sie nur als Objekte der Lust gesehen und wie Gebrauchsgegenstände benutzt. Wir wollen den Frauen zeigen, dass sie wertvoll sind und wenn möglich, helfen wir ihnen aus der Prostitution heraus. Aber das ist ein langer Prozess, da die Frauen durch den Missbrauch nur langsam Vertrauen aufbauen können. Es gibt Frauen, zu denen wir schon fast ein Jahr gehen, die zuerst abweisend waren und nicht mit unseren Mädchen reden wollten. Sie öffnen sich stückweise und erzählen, was sie erlebt haben. Manchmal weinen Mädchen von uns mit ihnen über die Schmerzen, die sie erlebt haben. Dadurch fühlen sich die Frauen nicht mehr allein, sie merken, dass es Leute gibt, denen sie sich anvertrauen können.

UNIVATIV: Mit was für einer Motivation geht ihr nach St. Georg?

Olaf: Der Grund, warum ich das mache, ist mein Glaube. Ich glaube, dass ich mit Jesus reden kann wie mit einem guten Freund. Wenn man die Bibel liest, insbesondere die Evangelien im Neuen Testament, ist es erstaunlich, wie oft Jesus mit Prostituierten zusammen war. Er hat sich sehr viel in Frauen investiert, hat sie immer wieder aufgefangen und ihnen Gutes getan. Meine Motivation ist also, dass ich mir Jesus als Vorbild genommen habe. Wenn wir es in St. Georg als Menschen versuchen würden, würden wir schnell entmutigt aufgeben. Aber die Liebe, die Jesus vorgelebt hat, gibt uns Kraft. Es ist unser Wunsch, dass die Frauen erleben, dass diese Liebe ihr Herz verändert, sie seelisch heilt und befreit von all dem Dreck. Das ist es nämlich, was selbst Frauen erzählen, die „nur“ eine versuchte Vergewaltigung erlebt haben: Sie fühlen sich schuldig und schmutzig. Missbrauch beschränkt sich auch nicht nur auf Körperlichkeiten, verbaler Missbrauch kann ebenso dazu führen, dass sich die Frauen wertlos fühlen.

UNIVATIV: Fällt dir dazu ein Beispiel ein?

Olaf: Ein Mädchen hat mir vor Kurzem voller Stolz erzählt, dass sie nicht mehr in St. Georg arbeitet und, dass sie in ein paar Wochen bei McDonalds anfangen kann. Sie ist 19 und hatte vor ein paar Wochen ihre Drogentherapie beendet. Am nächsten Tag habe ich sie wieder getroffen, da war ihr Verhalten aggressiv und sie war angetrunken. Als ich sie begrüßt habe, hat sie mir erzählt, dass sie wieder anschaffen war. Eine sogenannte Freundin hatte sie dazu überredet. Da war mir sofort klar, warum sie so anders war als am Tag zuvor: Das waren einfach der tiefe Schmerz, die Scham und die Enttäuschung über sich selbst, die sie betäuben musste. Am Tag darauf haben wir sie wieder getroffen, sie war nüchtern und wir konnten den ganzen Abend mit ihr verbringen. Wir sind mit ihr essen gegangen und konnten eine entspannte Zeit zusammen verbringen, in der sie wie selbstverständlich in unsere Gruppe aufgenommen wurde.

UNIVATIV: Was passiert seelisch mit einer Frau, die mit einem Freier schläft?

Olaf: In dem Augenblick schaltet die Frau ihre Emotionen total ab. Und das muss sie. Wer ein bisschen von Frauen versteht, weiß, wie schwer das für sie sein muss. Manche brechen darunter zusammen und betäuben ihre Gefühle mit Drogen. Es gibt Zuhälter, die diese Frauen auf die Straße jagen und manchmal sogar umbringen, weil sie dann keinen Nutzen mehr haben. Sie werden wegen ihrer Gefühle getötet, weil diese Frauen zugelassen haben, dass ihre Seele wieder spricht.

UNIVATIV: Was habt ihr für Zukunftspläne?

Olaf: Das langfristige Ziel ist es, ein Haus zu haben, in dem man Leuten heraus helfen kann. Eine Oase, in der sie auch seelisch zur Ruhe kommen können. Wir wünschen uns auch, dass wir mit Betrieben in Hamburg und in den Heimatländern der Frauen zusammenarbeiten können, die es ihnen ermöglichen, auf humane Art ihr Geld zu verdienen. Die Frauen sollen lernen und verstehen, dass sie kostbar sind und das Recht haben, „nein“ zu sagen. Außerdem sollen sie einen normalen Umgang mit Männern kennen lernen. Ältere Männer können für die Frauen – fern von sexuellen Forderungen – wie Väter sein, die sie als Mädchen nie hatten. Dadurch können die Frauen ein neues Selbstwertgefühl aufbauen, das den Heilungsprozess unterstützt.

UNIVATIV: Möchtest du noch etwas sagen?

Olaf: Eine Schätzung der UN geht davon aus, dass es weltweit 27 Millionen Menschen gibt, die in moderner Sklaverei leben. Ein großer Teil davon sind auch Frauen, die in der Sexindustrie arbeiten müssen. Der Menschenhandel hat schon den Drogenhandel abgelöst und ist auch kurz davor, den Waffenhandel abzulösen. Da sieht man, was für eine Finanzkraft dahinter steckt und wie lukrativ das Geschäft ist. Ich würde jeden herausfordern, sich mit dem Thema zu beschäftigen.

Das Interview führte Susanna Andrick

Kasten mit Fakten:

In Hamburg sind nur die Süderstraße und die Reeperbahn für Prostitution frei gegeben, nicht St. Georg. Deutschlandweit gehen pro Tag ca. zwei Mio. Männer zu Prostituierten mit Gewerbeschein, die Dunkelziffer liegt sehr viel höher. Die Preise beginnen auf der Reeperbahn bei 50€, in St. Georg bei 30€. Der durchschnittliche Verdienst einer Prostituierten in St. Georg liegt bei 180€ pro Tag. Wenn die Frauen aus ihrem Heimatland verschleppt wurden, müssen sie das ganze Geld an ihre Zuhälter abgeben, ansonsten zwischen 30 und 50%.

Filmtipp: „Human Trafficking – Menschenhandel“
Buchtipp: „Menschenhandel: Sklaverei im 21. Jahrhundert“ von E. B. Skinner