Auf einem Berg vor unserer Zeit

Von der Besteigung eines Tafelberges im Süden Venezuelas. Es ist sechs Uhr morgens, noch nicht einmal die Sonne ist aufgestanden. Ich hingegen schon. Und mit mir neun weitere Abenteuerlustige. Unser gemeinsames Ziel: Der Roraima, einer der größten und mit 2.810 Metern auch der höchste von über 60 Tafelbergen in der Gran Sabana im südlichen Venezuela. Die Vorbereitungen verlaufen für lateinamerikanische Verhältnisse erstaunlich reibungslos und so sitzen wir schon drei Stunden später in dem Jeep, der uns zum Ausgangspunkt unserer Wanderung bringt: Ein kleines Dorf, knapp 30 Kilometer vom Berg unserer Träume entfernt. Von da geht es dann in zwei Tagesmärschen zusammen mit unseren beiden einheimischen Führern Miguel und Rafael samt Rucksäcken zu Fuß weiter. Atemberaubend ist bereits der erste Anblick dieser gewaltigen Felsklötze. Tepuis, Häuser der Götter, nennen sie die Einheimischen. Für sie sind diese Berge die Stümpfe riesiger Bäume, die ihre Vorfahren einst fällten, um an die Früchte des Himmels zu kommen. Dieser Mythos erscheint einem gar nicht so abwegig, wenn man bei 40 Grad Celsius im Schatten (den es aber nicht gibt) durch die ansonsten sanften Hügel der Gran Sabana wandert. Für Geographen hingegen sind diese Berge die Überreste eines gewaltigen Sandsteinplateaus, das entstand, als sich der Meeresboden vor Urzeiten hob und zu Sandstein verfestigte. Im Laufe der Jahrmillionen wurde die Hochebene dann durch Wind und Wetter abgetragen. Zurück blieben die Zeugenberge, wie die Tepuis auch genannt werden. Geologen haben unlängst das Alter des Sandsteins auf 1,7 Milliarden Jahre bestimmt – damit gehört er zu den ältesten Sedimentgesteinen auf unserem Planeten. 1.700 Millionen Jahre – diese Zeitspanne entzieht sich jeder Vorstellungskraft. Die Zeit wird zur bloßen Metapher angesichts solcher Dimensionen.

Am zweiten Tag unserer Wanderung ist es dann nicht mehr die erbarmungslos brennende Sonne, die unseren Weg erschwert, sondern tropischer Dauerregen. Völlig durchnässt und erschöpft erreichen wir das Basislager in 1.800 Metern Höhe direkt am Fuße des Roraima, den die Wolken aber gänzlich vor unseren Blicken verbergen. Am nächsten Morgen lichten sich die Wolken ein wenig und der Anblick, den sie von Zeit zu Zeit freigeben, verschlägt uns erneut den Atem: Nur einen Steinwurf von unseren Zelten entfernt wächst eine Felsmauer fast 900 Meter senkrecht in die Höhe. Nachdem wir unsere Sprache wiedergefunden haben, stellen wir uns natürlich die Frage: Wie sollen wir da bloß hoch kommen? Doch es gibt einen Weg, der zwar beschwerlich, aber doch ohne Kletterausrüstung bezwingbar ist. Durch dichten Nebelwald, gesäumt von wunderschönen Orchideen und unzähligen Bromelien, wird er immer steiler und führt direkt in die Wolken. Wir klettern mühselig über schlüpfrigen Untergrund und moosbewachsene Felsblöcke, rutschen immer wieder ab und kämpfen uns doch langsam empor.

Vier mühsame Stunden später sind wir schließlich oben, ohne auf das vorbereitet zu sein, was uns dort erwartet. Fast übergangslos finden wir uns plötzlich in einer unwirklichen Mondlandschaft aus grauer Vorzeit. Die bizarrsten Felsformationen aus schwarzem Sandstein umgeben uns, als hätten Riesen hier einst Kleckerburgen aus Sand errichtet, die nun zu Stein erstarrt sind. Die Landschaft ist übersäht mit Wasserlöchern und Tümpeln, Cañons und Sümpfen. Keine der Pflanzen um uns herum ist mir vertraut. Sie wirken wie aus einem Traum. Große weiße Blüten, die aus merkwürdigen Blattrosetten wachsen, muten an wie zerbrechliches Porzellan. Andere Pflanzen leuchten so intensiv rot, als wären sie frisch lackiert. Die wassergefüllten Trichter fleischfressender Pflanzen finden Halt auf nacktem Fels. Verstärkt wird die unheimliche Atmosphäre dieses Ortes noch durch Nebelschwaden, die vom Wind zerrissen immer nur einen Teil des Ganzen erkennen lassen. Erneut sprachlos vor Staunen wandern wir durch die verwunschene Landschaft zu unserem Schlafplatz für die nächsten beiden Nächte. „El Hotel“ heißt der riesige, zerklüftete Felsblock, dessen Überhänge unseren Zelten ein wenig Schutz vor Wind und Regen bieten – aber nicht vor der klirrenden Kälte der Nächte.

Den folgenden Tag verbringen wir unter brennender Sonne auf dem über 30 Quadratkilometer großen Plateau. Wir wandern durch eine Welt, in der die Zeit vor Äonen stehen geblieben ist. Über Millionen von Jahren vom Rest der Welt abgeschnitten, hat sich hier oben eine einzigartige, urzeitliche Flora und Fauna erhalten. Schätzungsweise 70 Prozent der vorhandenen Tier- und Pflanzenarten sind endemisch, es gibt sie nur auf den Tepuis. Und selbst von Tafelberg zu Tafelberg unterscheiden sich viele Arten. Bedingt ist die Isolation der Hochplateaus zum einen durch die Hunderte Meter hohen Felswände. Zum anderen sind die Tepuis auch klimatische Inseln in einem Meer tropischer Regenwälder und Savannen. Während unten eine Durchschnittstemperatur von etwa 27 Grad Celsius herrscht, sind es hier oben nur 10 Grad. Unten wechseln sich Trocken- und Regenzeit ab, oben sorgen die Passatwinde ganzjährig für ein feuchtes und sehr stürmisches Lokalklima. Ein Austausch von Tier- und Pflanzenarten zwischen diesen so unterschiedlichen Umweltbedingungen ist fast unmöglich. Auf diese Weise vollkommen isoliert, leben auf den Tepuis Tier- und Pflanzenarten, die es nirgendwo sonst auf der Welt gibt. Wie beispielsweise eine kaum drei Zentimeter große, warzenübersäte Kröte mit dem wohlklingenden Namen Oreophrynella. Unendlich langsam, geradezu in Zeitlupe bewegt sie sich mit weit ausholenden Beinbewegungen über den Fels. Wie bei vielen der hier vorkommenden Reptilien leben ihre nächsten Verwandten in Afrika. Damit ist auch das Mini-Monster Oreophrynella ein Relikt aus einer längst vergessenen Zeit, lange bevor sich die Wege Afrikas und Südamerikas vor über 160 Millionen Jahren trennten.

Als die Berichte von der Erstbesteigung des schon damals legendären Roraima im Jahre 1884 England erreichten, inspirierten sie Arthur Conan Doyle zu seinem Roman „The Lost World“, in dem noch heute Dinosaurier auf einem dieser Tafelberge hausen. Und tatsächlich: Man erwartet zwar keine Saurier hier oben. Aber wenn man durch diese prähistorischen Labyrinthe wandert, so würde es einen auch nicht sonderlich wundern, wenn hinter der nächsten Ecke eine Gruppe Velociraptoren hungrig auf weitere Abenteurer lauern würde. In einem der Cañons wartet dann glücklicherweise aber eine ganz andere Überraschung auf uns: El Valle de los Christales, das Tal der Kristalle, dessen Boden gleich tonnenweise mit den weiß und rosa glitzernden Kostbarkeiten übersäht ist.

Einen weiteren Höhepunkt bietet uns der Roraima dann noch kurz vor dem Wiederabstieg. Bei erneut strahlendem Sonnenschein wagen wir uns ganz nah an den Rand des Plateaus. Dort fällt der Blick senkrecht und ohne jeden Halt einen Kilometer in die Tiefe. Mein Herz vergisst für den Moment zu schlagen und sobald das Adrenalin wirkt, taumele ich mit weichen Knien ein paar Schritte zurück. Unter uns in weiter Ferne breitet sich die Ebene der Gran Sabana aus, teilweise bedeckt von einem weißen Wolkenschleier. Scheinbar zum Greifen nahe dagegen befindet sich rechts von uns der kleine Bruder des Roraima: Der Kukenam-Tepui. Auch von diesem stürzen Wasserfälle Hunderte von Metern in die Tiefe, ohne den Boden zu erreichen. Auf halber Höhe werden sie vom Wind verweht und verlieren sich in den Wolken. Dieses schwindelerregende Panorama vermittelt einem unweigerlich das Gefühl, über der Welt zu stehen und tatsächlich aus dem Haus der Götter auf die Erde hinab zu schauen.

Mathias Becker