Ab nach Kassel!

Die Stadt möchte mehr sein als nur documenta – und scheitert daran regelmäßig mit Bravour. Wer im letzten Sommer durch Lüneburg fuhr, kam nicht an ihr vorbei. Ehrwürdig blickte die Dame auf die Passanten herab. Blutrot schimmerte ihr Seidenhut, goldig leuchteten die Diamanten am Ohr, eine Schulter vornehm von Pelz bedeckt. Die Rede ist hier nicht von Queen Elisabeth, sondern von einem Gemälde. Einem Gemälde aus Kassel. Abgedruckt auf einem Werbeplakat.

Kassel – da denkt man spontan an eine hässliche Innenstadt, eine hohe Sozialhilfequote und ein leckeres Fleischgericht. Dem kulturell Interessierten fällt noch die documenta ein: Das Ereignis, das Kassel alle fünf Jahre aus seinem Dornröschen-Schlaf holt und zum Nabel der Kunst-Welt macht. In den Jahren dazwischen möchte man Kassel lieber umgehen. Doch an Hessen führt kein Weg vorbei, das hat Roland Koch einst gelehrt. An Kassel erst recht nicht, denn fast alle großen Autobahnen führen durch die Stadt. Das Gute an diesem Umstand: Man muss ja nicht aussteigen. Eigentlich ist also alles in Ordnung.

Eigentlich. Doch die Kasseler haben beschlossen, dem schlechten Image ihrer Stadt etwas entgegenzusetzen. Schließlich hat Kassel wirklich gute Seiten: die Museen zum Beispiel, die vielen Grünflächen. So fasste die Stadt einen Beschluss: Wir werden nicht nur eine Stadt der documenta, sondern auch eine Stadt der Kultur.

Kassel begann sich zu wappnen. Für die Aufgaben, die kommen sollten. Für den großen Umbruch in eine neue Zeit.

Als erstes nahmen die Kasseler sich ihre Innenstadt vor. Diese war im zweiten Weltkrieg fast vollständig abgebrannt. Die Bausünden der fünfziger Jahre taten ihr Übriges.

Abhilfe schaffen wollte Gustav Lange: 1992 beteiligt sich der Künstler mit dem Bau einer zwölf Meter hohen Treppe, deren Ende ins Nichts führte, an der documenta. Die Skulptur sollte die Arroganz der Herrschenden widerspiegeln. Nach der documenta blieb die Treppe – mitten auf dem Königsplatz, im Herzen Kassels. Leider wussten Innenstadtbesucher weniger die Message des Kunstwerks zu schätzen als die Möglichkeit, sich hier Erleichterung zu verschaffen, wenn ihnen die Blase drückte. Nach kurzer Zeit forderten die Kasseler Bürger den Abriss der Treppe. Dass diesem Wunsch nicht so leicht nachzukommen war, stellte sich aber schnell heraus. Gustav Lange pochte auf sein Urheberpersönlichkeitsrecht und verhinderte so den Abriss des künstlerischen Aborts. Schließlich beschloss Oberbürgermeister Georg Lewandowski, dem Ganzen ein Ende zu bereiten. In einer Nacht- und Nebel-Aktion ließ er von einem befreundeten Abreißunternehmen die Treppe dem Erdboden gleichmachen. Am nächsten Morgen war der Spuk vorbei und Kassel bereit für neue Ideen. Das war auch dringend nötig, denn ohne Treppe war der Königsplatz ziemlich leer.

Nachdem der Antrag eines Kasseler Bürgers, die Innenstadt einfach abzubrennen, um der ganzen Hässlichkeit ein Ende zu bereiten, abgewiesen wurde, entschied man sich für die Montage mehrerer Wasserspeier, die kreisförmig um den Königsplatz befestigt wurden. Leider hatten die Stadtplaner weder das Gefälle des Untergrundes berechnet noch die Tatsache, dass jedes närrische Schulkind das Wasser-Zulaufsystem auf einfachste Art so manipulieren kann, dass alles überflutet. Die Folgen: In den Sommermonaten gleicht der Königsplatz eher einem Planschbecken, in den Wintermonaten kriechen Besucher des Rathauses auf allen Vieren über das Blitzeis. Da also mit dem Versuch, die Innenstadt zu verschönern, der Königsplatz zu einem Chaos-Platz geworden war, wandten sich die Kasseler neuen Projekten zu.

Steckenpferd der Bewegung sollte der Herkules werden, das Wahrzeichen Kassels. Dieser thront als Statue seit dreihundert Jahren auf der höchsten Erhebung des Kasseler Bergparks. Die nackte Statue streckt ihren Hintern übrigens in Richtung Frankreich. Der Erbauer des Bergparks, Landgraf Karl, mochte die Franzosen nicht. Landgraf Karl mochte auch den Baumeister des Herkules, Francesco Gueriero, nicht besonders. Dieser hatte für die Statue und ihren Sockel den falschen Stein ausgewählt. Bereits fünf Jahre nach der Fertigstellung mussten erste umfassende Sanierungsarbeiten vorgenommen werden. Viele Jahre später, als die Kasseler sich überlegten, Kulturstadt zu werden, musste Herkules zum wiederholten Mal restauriert werden. Dabei wurde ihm zwischenzeitlich auch der Kopf abgenommen – pünktlich zum Zeitpunkt der documenta 12 – die Besucher waren enttäuscht. Ansonsten kam es bei den Bauarbeiten zu keinen größeren Zwischenfällen, sie dauern aber noch bis Sommer 2010 an.

Da der Herkules als Baustelle also keine gute touristische Attraktion bot, begann Kassel, seine Theater und Opern in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken – wieder nicht ohne Pannen. Der interessierte Operngänger sollte beim Kartenkauf beachten, dass ausnahmsweise die Plätze an den Rändern der ersten Reihe die besten sind, nicht die in der Mitte. Der Orchestergraben wurde nämlich falsch herum eingebaut.

Da die Beschäftigung der Kasseler mit ihrer Kultur zwar deutschlandweit Aufmerksamkeit erregt hatte, die Touristenströme aber trotzdem ausblieben, entschied man sich für eine Hinwendung zum Althergebrachten. Wie gerufen erschien damals die documenta 12. Vielleicht, so hofften die Einwohner, hatte das Großereignis diesmal die Kraft, die kulturelle Identität ihrer Stadt langfristig zu stärken. Doch leider blieb auch die wichtigste zeitgenössische Kunstausstellung von Katastrophen nicht verschont. Der damalige Leiter Roger M. Buergel hatte für die Kunstausstellung auf der Karlswiese vor der Orangerie große Hallen bauen lassen, auch Pavillons genannt. Nach über zehn Tagen Dauerregen waren diese aber so undicht, dass mehrere der millionenschweren Kunstwerke in anderen Gebäuden untergebracht werden mussten. Die zwölf Meter hohe Statue „Template“ des chinesischen Künstlers Ai Weiwei, hergestellt aus Holztüren der Chinesischen Ming- und Qing Dynastie konnte leider nicht transportiert werden. In der Nacht des 13. Juli 2006 stürzte sie in sich zusammen. Au Wei.

Auch ein anderes Kunstwerk fiel dem Element Wasser zu Opfer. Geplant war, am Hang des Schloss Wilhelmshöhe ein Reisfeld anzulegen, um damit Gemeinsamkeiten und Gegensätze der Kulturen (in diesem Fall Asien und Europa) zu symbolisieren. Die ständige Bewässerung des künstlichen Hügels führte aber zu Bodenerosionen, man befürchtete ein Wegrutschen des gesamten Hanges. Kurzerhand musste der Künstler von Nass- auf Trockenreis umstellen. Probleme ganz anderer Art hatte die chilenische Künstlerin Lotty Rosenfeld. Um an die Diktatur der Pinochet-Ära in ihrem Land zu erinnern, hatte sie weiße Kreuze quer über die Fahrbahnmarkierungen auf die Straße vor dem Fridericianum geklebt. Die Stadtreiniger hatten dafür kein Verständnis. Sie putzten die Kreuze einfach weg, da diese gegen die Straßenverkehrsordnung verstießen.

Trotz, oder vielleicht auch wegen aller Zwischenfälle waren während der documenta 12 mehr Touristen in Kassel als jemals zuvor und die Ausstellung hatte einen neuen Besucherrekord.

Doch selbst eingeschworene Kasseler sahen ein, dass das wohl eher an der documenta als an der Anziehungskraft der Stadt lag. Ein Kasseler wäre aber kein Kasseler, wenn ihn solche Dinge aus der Ruhe bringen würden. Um die Vision, Kassel kulturell zu etablieren, endlich zu realisieren, wurde nun auf die Mittel der Marktwirtschaft zurückgegriffen. Die Organisation „Kassel Tourist“ sorgte für großflächige Plakate, die für die Kulturschätze Kassels werben sollten. Auf diesen Plakaten ist die schöne junge Dame mit blutrotem Seidenhut, goldenen Diamanten und Pelz zu sehen. Mutig wirbt sie für einen Besuch in der Stadt. Ein jeder der das Chaos liebt, sollte ihrem Ruf folgen.

Von Lina Sulzbacher (die Autorin ist Kasselerin)